„Opa, erzähl uns eine Geschichte!“, riefen Tobi und
Lisa euphorisch, „Es ist Halloween und wir wollen uns gruseln.“
Opa Olaf jedoch war nicht so nach Gruseln zumute. Er
hasste Halloween schon seit er ein kleiner Junge war. Doch seine beiden Enkel
drängten ihn schon den ganzen Morgen, denn sie waren schrecklich aufgeregt.
Heute Nacht war die Nacht der Nächte – Halloween! Die einzige Nacht im Jahr, in
der viele Kinder sich in kleine Monster verwandelten und von Tür zu Tür
wanderten, um sich kleine Leckereien zu ergaunern. Eigentlich war es ja
Erpressung, denn Süßigkeiten wurden nur ausgeteilt, damit die Hausbesitzer nicht
befürchten mussten, dass schreckliche Streiche mit ihnen gespielt wurden. Opa
Olaf hatte den Grundgedanken von Halloween nie verstanden, denn Kinder waren
doch die meiste Zeit kleine Monster, nur verkleiden taten sie sich nicht.
„Na gut, na gut“, sagte er, setzte sich auf das Sofa
und starrte mit ausdrucksloser Miene auf das Bild, welches an der Wand hing. Es
war ein wunderschönes Bild und Opa pflegte es mit besonderer Sorgfalt. Es war
eine Acryllandschaft mit einem kleinen Bauernhäuschen und einem prächtigen
bunten Garten. Die Sonne schien und tauchte alles in warme Farben, ganz anders
als um diese Zeit im Oktober, wo es immer kälter wurde.
„Was seht ihr dort?“, fragte er nur mit den Augen
auf das Bild deutend. Lisa und Tobi schauten: „Ein Bild.“ „Mehr ist es für euch
nicht? Für euch, die doch an Hexen, Feen und Werwölfe glauben und doch nicht
die Magie dieses Bildes erkennen?“, fragte Opa Olaf. Die Kinder schüttelten die
Köpfe. „Es ist viel mehr als nur ein Bild und die Geschichte, die ich euch
erzählen werde, wird euch nie wieder loslassen:
Ich hatte mal eine Schwester, das heißt eigentlich,
vielleicht habe ich sie ja noch. Julie war ihr Name und sie war eindeutig meine
Lieblingsschwester, denn ihr sonniges Gemüt war so ansteckend, dass ich niemals
ein Gefühl der Trauer in ihrer Gegenwart gespürt habe. Sie malte dieses Bild
als sie ungefähr vierzehn Jahre alt war. Ich weiß noch genau, wie sie
stundenlang an dieser Arbeit saß und ich ihr dabei zusah, wie es immer mehr
Gestalt annahm. Julie und ich holten jeden Tag die Milch von der Molkerei und
auf dem Weg dahin vielen uns immer viele Albernheiten ein. Unser Weg führte an
einem Haus vorbei, welches in dem schaurigsten Teil unseres Ortes lag. Die
Fenster waren mit schwarzen Laken verhüllt und die Fassade bröckelte von der
Hauswand. Es war ein ganz und gar ungepflegtes Haus und alle streunenden Katzen
der Stadt schienen sich dort zu tummeln. In dem Haus wohnte eine alte Dame. Wie
sie hieß weiß niemand mehr, denn alle nannten sie nur „die Hexe“ und sie machte
ihrem Namen alle Ehre, denn sie hatte schreckliche Warzen im Gesicht und trug
Kleider, die eher Lumpen glichen. Es war ein wirklich schauriger Ort und jedes
Mal klopfte mein Herz wie wild, als wir dort vorbei marschierten.
Eines Tages machte ich jedoch einen schrecklichen
Fehler. Als Julie und ich wieder an diesem Haus vorbeigingen, warf ich mit
Steinen nach den Katzen (ich war halt ein kleiner Lausebengel). Als ich es in
dem Haus poltern und die Tür des Hauses knarren hörte, bekam ich einen riesigen
Schreck und rannte wie der Teufel. Julie folgte mir, ließ dabei jedoch die
Milch fallen, sodass die Flasche in tausend Scherben zerbrach. Ein
schrecklicher und ohrenbetäubender Schrei war zu hören. Hatte sie uns gesehen?
Würden wir dafür Ärger bekommen? Unsere Herzen pochten wie wild und meine Knie
schlotterten. Zuhause angekommen bekamen wir mächtig Schelte wegen der
zerbrochenen Milchflasche und Julie sollte allein am nächsten Tag die Milch
holen. Ich war verärgert, weil ich Julie nicht allein gehen lassen wollte, aber
auch erleichtert, da ich nun nicht an diesem Haus vorbeigehen musste.
Nächsten Tag ging Julie also allein los und ich
wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, als sie nach zwei Stunden noch immer
nicht Zuhause war. Vater meinte, sie trödele nur rum und war keineswegs
beunruhigt. Ich jedoch stand stundenlang am Fenster und wartete. Jede Sekunde,
hoffte ich, sie würde endlich um die Ecke kommen und in unsere Straße
einbiegen, lächelnd wie ich es gewohnt war. Leider wurde ich jedoch bitterlich
enttäuscht. Gegen Abend machten sich meine Eltern dann doch Sorgen und ließen
nach ihr suchen. Ich wusste genau, wo ich sie zu Finden glaubte, allerdings
fand man in dem Haus der Hexe auch keine Spur von ihr. Sie war wie vom Erdboden
verschluckt.
Noch viele Wochen lang stand ich am Fenster und
wartete, hoffte, sie würde endlich wieder da sein, doch nichts geschah. Dann
eines Morgens jedoch fand ich sie. Als ich in ihrem Zimmer war, um mir noch
einmal das schöne Bild anzusehen, entdeckte ich, dass sich auf ihm etwas verändert
hatte. Es war kein warmer Sommertag mehr, der auf diesem Bild dargestellt
wurde, sondern ein kühler Wintermorgen. Alles war mit Schnee bedeckt und aus
dem Schornstein des Hauses kam Rauch. Eigenartig, denn ich hatte nie bemerkt,
dass Julie das Bild derartig verändert hatte oder gar ein neues Bild angefangen
hatte. Ich schaute genauer hin und da sah ich sie! Hinter einem Fenster mit dem
Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt und mich ansehend. Julie! Es war, als
hätte sie sich selbst dort in das Bild hineingemalt, doch ich wusste, dass sie
dies nicht getan hatte. Sie war es! Meine Schwester Julie, die dort in diesem
Bild eingeschlossen war als Teil des Bildes. Mutter und Vater wollten es zuerst
nicht glauben und Vaters Hand ballte sich schon zur Faust, doch an jedem
Morgen, wo wir das Bild betrachteten, hatte es sich verändert. Mal saß Julie
auf der Terrasse, mal sah man sie beim Blumenpflücken, doch nie sah man, wie
sie sich bewegte. Sie war vollkommen starr und doch stand sie jeden Morgen auf
einem anderen Fleck des Bildes.
Meine Mutter brach in Tränen aus, als sie erkannte,
was ihrem Kind zugestoßen war, doch niemand vermochte ihr zu helfen. Sie war
dort eingeschlossen auf ewig. Und so blieb es Tag um Tag, Jahr um Jahr. Wir
wurden erwachsen und Julie wurde es auch. Sie wurde älter und älter. Wurde eine
wunderschöne erwachsene Frau und wurde eine alte Dame. Ich schaute jeden Tag
auf das Bild, manchmal redete ich auch mit ihr, in der Hoffnung, sie könne mich
verstehen. Eines Tages jedoch fand ich sie nicht mehr auf dem Bild. Auch von
der Hexe hatte ich seit dem Vorfall nichts mehr gehört, denn sie war ebenfalls
verschwunden.“
„Wo ist sie jetzt? –
Julie“, fragte Lisa mit großen Augen. „Ich weiß es nicht“, antwortete Opa Olaf,
„Mir ist nur ihr Bild geblieben.“ Tobi und Lisa wussten nicht recht, ob Opa
Olaf ihnen wirklich nur eine Geschichte erzählt hatte, vergessen konnten sie
sie allerdings nie und jedes Mal, wenn sie wieder bei Oma und Opa zu Besuch
waren, betrachteten sie stundenlang dieses Bild. „Was schaut ihr denn dort?“,
fragte Papa sie eines Tages, „sucht ihr jemanden?“ Tobi und Lisa nickten ohne
ihren Blick vom Bild abzuwenden und wie aus einem Munde antworteten sie:
„Julie“.