Montag, 21. Oktober 2013

Winfred oder die Rebellion der Senioren



Das Altersheim in Dubenhausen ist ein beschauliches kleines Gebäude mit wenig Personal. Winfred, ein alter Senior schaute eines Tages bei der Nachmittagsrunde Skat aus dem Fenster. Wie gerne würde er jetzt doch die Nordsee sehen, das Meer. Vertieft in  seine Gedanken, fällt ihm plötzlich etwas ein: Ich will an die Nordsee, ich komme an die Nordsee. Also steht er auf, schreit durch den Raum „Ich fahre an die Nordsee!“ und ist auch schon auf dem Weg in sein Zimmer, um sich für die Reise zu wappnen. Unten im Aufenthaltsraum herrscht inzwischen große Aufregung. „Habt ihr das gehört? Der will ans Meer!“, schnaubt Edgar verächtlich. Heidrun fragt mit lauter Stimme: „Der will an’s Wehr?“. Monika, die gerade wieder zu sich kommt nach ihrem Nickerchen hört nur, dass alle ans Meer fahren, freut sich riesig, springt auf und rennt durch die Zimmer, um allen Bescheid zu sagen. Helle Aufregung! Endlich ein Ausflug! Alle freuen sich, manche stürmen in ihre Zimmer, packen ganze Reisekoffer, andere rufen ihre Verwandten an und fragen nach der Adresse, um ihnen eine Karte zu schicken. Oskar fühlt sich nur wie auf einem  Bahnhof. So viele fremde Menschen, schaut auf sein Armband, da steht, Zimmer 67 gehört mir und beschließt es zu suchen. Pflegerin Agatha kommt hinein, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. So laut, war es hier noch nie. Monika kommt ihr entgegen: „Was soll ich anziehen, was für Wetter ist am Meer? Kommen Sie auch mit? Karl sagt, es sind nur zwanzig Minuten zu Fuß.“ Agatha weiß gar nicht, was sie sagen soll. Wer hat den Alten denn das eingeredet? Sie geht zu der Chefin, um nachzufragen, ob sie wirklich alle ans Meer  fahren. Heidrun, immer noch in der Ecke sitzend ruft laut: „Schauen wir uns jetzt Bären an oder gehen wir uns Speere angucken?“ Noch größere Aufregung. Erst fahren sie zum Meer, dann in den Zoo und wenn sie es schaffen, schauen sie noch im Historischen Museum vorbei. Große Freude macht sich breit. Monika steht schon mit Kamera und warmem Mantel  vor der Tür und erzählt den Passanten von dem großen Ausflug, den das Heim geplant hat. Da kommen auch schon fünf weitere Senioren aus dem Altersheim und machen sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Edgar schaut: Emden, Hamburg, Norden. Nirgendwo steht „Meer“. Inzwischen hat Agtha von dem Vorfall berichtet und nun ist auch die Chefin in großer Aufregung. Die hauen einfach ab! Schnell stürmt sie nach draußen, um die Senioren aufzuhalten, doch es ist zu spät. Monika in ihrer überzeugenden Art hat dem Busfahrer alles erzählt und der in seiner liebenswürdigen freundlichen Art bringt die Sippe nun zur Nordsee. In bester Laune sitzen die Alten auf ihren Plätzen und erzählen ganz aufgeregt miteinander. Dreißig Minuten später sind sie an einem Ort, von dem der Busfahrer ihnen versichert hat, dass das die Nordsee sei, aber da ist überhaupt nichts! Nur nasser Sand soweit das Auge reicht. Enttäuscht macht Monika trotzdem Fotos. Das ist zwar nicht das Meer aber die größte Sandfläche, die sie jemals gesehen hat. Im Restaurant auf einem Hügel vor dem Meer schüttelt ein Gast nur den Kopf. Eine Gruppe alter Urlaubertouristen steht da und fotografiert die Ebbelandschaft.
Auch Winfred ist nun endlich fertig. Mit kleiner Tasche und Fotoapparat geht er die Treppe zur Eingangstür hinunter, doch Agatha ist schneller und versperrt ihm den Weg. „Oh nein Herr Mührle, alle anderen sind weg und meine Kolleginnen und ich müssen sie nun suchen. Bleiben Sie bitte solange auf Ihrem Zimmer“, fordert sie ihn mit einem gespielten Lächeln auf. So ein Ärger! Wie gern hätte Winfred die Nordsee gesehen, mit ihren Gezeiten.

1 Kommentar:

  1. Eine nette Geschichte, mit Tiefgang. Unterhaltsam und lustig erzählt. Gefällt mit wirklich gut!

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