Montag, 11. November 2013

Strom der Zeit - ein weiteres Fragment



Es war wieder soweit. Heute Morgen hatte sie es gespürt und sofort gewusst, dass es in diesem Jahr keine Ausnahme geben würde. Es war dieses Gefühl von Aufregung, dass sich in ihre breit machte und ihr, gleich wie einem Tier, bekannt gab, dass das Jahr sich dem Ende neigte. Ein Gefühl, das gleichzeitig Trauer hervorrief und sie hoffte, sich nach all den Jahren allmählich daran gewöhnt zu haben, doch jedes Mal weiteten sich ihre Augen und ein Funken Furcht war darin zu sehen. Der Dezember nahte, schon wieder. Die Natur hatte sich schon darauf eingestellt und die Bäume warfen alle Blätter von sich, da sie diese niemals mit hinübernehmen durften. So war es Gesetz und so würde es bleiben. Man durfte nichts mit hinübernehmen in das neue Jahr, keine Sorgen, keine schwere Last. Viele hatten es versucht und sie alle waren gescheitert. Denn man ging allein und es war, als wenn man mit einem Floß über einen reißenden Strom fahren wollte: nahm man etwas mit, ging es unter. Und so blieben alle Sorgen auf der anderen Seite, während man weiterging, ohne zurückzuschauen, ohne zu überlegen. Es blieb einem ja keine Wahl.

Doch wenn sich das Jahr dem Ende neigte und man den Fluss überschritt, damit sich die Welt wieder erneuern konnte, war er wieder da. Sie spürte sein Kommen lange vor seiner Ankunft und doch hatte sie jedes Jahr geglaubt, er hätte es nicht über den Fluss geschafft. Und es erzeugte den Gefühlssturm in ihr, der wütete, bis sie wieder über den Fluss gegangen war. Ein Sturm, der Freude und Leid in sich trug.
Suchend schaute sie in den Himmel, um ein Zeichen zu finden oder Trost, was genau, wusste sie nicht. Und dann hörte sie ihn: „Hallo Kleine!“, sprach er sanft. Sie drehte sich um und da stand er, unverändert und doch blieb ihr Herz jedes Jahr bei seinem Antlitz stehen. Er hatte es geschafft. Langsam zweifelte sie nicht mehr daran. Wunderschön stand er da und war doch nur für sie sichtbar. „Geister gelangen nicht über den Fluss“, hatte er ihr einst erzählt, „aber dein Herz baut immer eine Brücke über diesen Fluss, sodass ich dir folgen kann. Zerstörst du die Brücke, bleibe ich zurück.“ Sie hatte keine Ahnung, wie ihr Herz diese Brücke erschuf, doch jedes Mal erfüllte sie das neue Jahr mit Angst, dass es diesmal nicht geschehen könnte. Und doch stand er vor ihr wie jedes Jahr und dort, wo zuvor Trauer in ihrem Herzen geherrscht hatte, bahnte sich ein Schwall des Glückes an, in dem sie innerlich zu ertrinken schien.

Beim Schreiben gehört: Knorkator - Liebeslied; ASP - Ungeschickte Liebesbriefe

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